Call for Papers

CALL FOR PAPERS (als PDF; PDF in italiano)
Italianistentag Hamburg, 1. bis 3. März 2012
„L’Italia unita – le unità d’Italia“

I.
Das Jubiläumsjahr 2011, in dem Italien 150 Jahre nationaler Einigung feiert, ist für uns der Anlass, über das Konzept der Einheit – und Vielfalt – in Sprache, Literatur und Kultur Italiens nachzudenken. Einheit, das ist der Versuch, die Kontingenz des Realen in eine Ordnung zu bringen, der Versuch, durch Unterscheidungen und Ausgrenzungen Einheitlichkeit herzustellen und Heterogenität benennbar zu machen.
Ausgehend von der Beobachtung, welch zentrale Rolle derartige Prozesse in den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Vollzugs spielen, hat sich der Hamburger Italianistentag 2012 das Ziel gesetzt, Prozesse der Einigung, Verfahren der Stabilisierung von Einheit, aber auch gegenläufige Tendenzen der Resistenz und der Autonomiebehauptung gegen die „unità“ in der italienischen Sprache und Literatur zu untersuchen.

II.
„Nation-building“ in seinen unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen, literarischen Dimensionen ist nur eines, aber sicherlich eines der spektakulärsten Projekte, Gesellschaft durch die Verpflichtung auf eine sinnstiftende Einheit zu regulieren. Doch was sich im ausgehenden 20. und frühen 21.Jahrhundert als ein von außen durch Weltmächte oder Staatenorganisationen an ethnisch, politisch oder religiös instabile Staatengebilde herangetragenes Programm zur Errichtung von demokratischen Zivilgesellschaften darstellt, war im 19.Jahrhundert ein Prozess, den ein kulturell, historisch und national geprägtes Identitätsbewusstsein von Innen gegen interne wie externe Widerstände vorantrieb.
„Italien“, das zu Beginn des 19.Jahrhunderts allenfalls ein geographischer und kultureller Begriff war, stand quer zur durch den Wiener Kongress 1815/1818 fixierten Ordnung Europas, die für neue Akteure ebenso wenig einen Platz vorsah wie für Liberalismus, sozialen Wandel, Konstitutionalismus und Nationalismus. Das ‚Geeinte Italien’ konnte nach 1861 allerdings kaum eine die sozialen, wirtschaftlichen, geographischen und kulturellen Gegensätze überbrückende nationale Identität ausbilden, da der von einer bürgerlichen Mittelschicht getragene Nationalismus ebenso wenig mit der hegemonialen Schlagkraft des Königreiches Piemont-Sardinien im Nordwesten und der Realpolitik seines Premierministers Camillo Benso Cavour wie mit der wirtschaftlichen Rückständigkeit Süditaliens in Einklang stand.
Daher werden die Feiern zum einhundertfünfzigsten Jahrestag der Gründung des Nationalstaates Italien gerne mit der durchaus konfliktreichen Vielfalt der italienischen Gesellschaft konfrontiert. Manchmal wird dabei jedoch übersehen, dass diese Vielfalt sehr häufig auf denselben identitätsbehauptenden Mechanismen beruht, die auch jenseits der (oder auch gegen die) Nation in Einheiten anderer Größenordnung – im regionalen Eigensinn bis hin zum „Campanilismo“ – oder anderer Qualität (von der Katholischen Kirche bis zur Kommunistischen Partei) wirken. Ebenso wird leicht übersehen, dass das Abgleiten in einen Differenzdiskurs, der nur noch Kontingenz und Beliebigkeit anzuerkennen vermag, zwar ein wirksames Gegenmittel gegen die Autorität der Einheitsbehauptung ist, aber die Notwendigkeit, Gemeinsamkeiten im Erkannten zur Ordnung der Welt zu verwenden, geteiltes Wollen zur Solidarisierung einzusetzen und die Verständigung auf das gemeinsame Gewohnte zu stützen, weiterhin besteht.

III.
Insofern führt der analytische Blick auf die Einheit Italiens nicht zu einer großen Leerstelle. Sichtbar werden vielmehr zahlreiche andere Einheiten, die die italienische Sprache, Literatur und Kultur sowohl vor als auch nach der historischen Einigung 1861 Italiens gliedern. Manche reichen über Italien hinaus und stiften einen Traditionszusammenhang, der mit nationalen Kategorien noch nie zu erfassen war, so die Einheit der katholischen Religion oder der Export des Italienischen als Weltsprache der Oper im 17. und 18.Jahrhundert. Andere erfassen nur Teile der italienischen Gesellschaft und Kultur, etwa regional, sozial oder kommunikativ definierte Gruppen, deren Stellenwert in dem größeren nationalen Ganzen erst zu erfassen ist. Der analytische Blick fordert und fördert aber nicht nur die Anerkennung einer geordneten und nichtsdestoweniger vielfältigen Wirklichkeit. Er führt auch dazu, die Leistungen von Vereinheitlichungen zu sehen, ohne ihre teilweise zerstörerische Macht leugnen zu müssen. Es gilt, die in der Einheit implizierten Gemeinsamkeiten als das zu erkennen, was sie sind: Nicht substantialistische Gegebenheiten, die keinerlei Handlungsspielraum mehr gewähren, sondern Behauptungen von Gemeinsamkeiten, deren normative Geltung bis zu einem gewissen Grade und innerhalb unhintergehbarer Grenzen ausgehandelt werden kann. „L’italia unita“ und „le unità d’Italia“ stehen damit in eben dem dialektischen Verhältnis, das auch Artikel 5 der Italienischen Verfassung formuliert: „La Repubblica, una e indivisibile, riconosce e promuove le autonomie locali“.

IV.
Vor diesem Hintergrund soll der Hamburger Italianistentag die Prozesse der Vereinheitlichung und Diversifizierung, der normativen Sicherung und der konkreten Instabilität in den unterschiedlichen Bereichen der italienischen Kultur und Geschichte sichtbar machen.
In der sprachwissenschaftlichen Sektion soll die Themenstellung Prozesse der
sprachlichen Einigung in der Geschichte der italienischen Sprache genauso wie das Fortbestehen oder das Wiederentstehen sprachlicher Vielfalt in der italienischen Gesellschaft fokussieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit sollen dabei sowohl die empirisch zu beobachtenden Standardisierungs- bzw. Koineisierungsprozesse stehen als auch die Veränderungen, die sich im metasprachlichen und lexikographischen bzw. grammatikographischen Diskurs erkennen lassen. Für die literaturwissenschaftliche Sektion ist nicht an eine Fortsetzung des Ansatzes einer „geografia della letteratura italiana“ gedacht, sondern an die Untersuchung der Kopräsenz von zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen, die sich bereits lange vor der politischen „Unità“ an den Relationen zwischen einem historisch diversifizierten kulturellen Konzept von „Italien“ (etwa in Petrarcas Canzone „Italia mia“ oder Leopardis „All’Italia“) und starken regionalen Selbstverständnissen etwa der höfischen Zentren im Italien des Mittelalters und der Renaissance wie Mailand oder Ferrara oder der Handelsrepubliken wie Venedig oder Genua ablesen lassen. Diese Relationen lassen sich weder einfach als Gegensätze denken noch statten sie die regionalen Zentren per se mit einem Bewusstsein der Inferiorität aus.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Vertiefung des Bewusstseins für die geschichtliche Entwicklung des geeinten Italiens selbst auf der Halbinsel nicht selbstverständlich ist, sollen in der didaktischen Sektion neben dem nicht nur auf die Staatsgründung zurückgehenden Nord-Süd-Konflikt auch die historisch markanten Etappen seit 1861 berücksichtigt werden Der Versuch einer nationalen Pädagogik, wie sie Carlo Collodi in den ersten Jahren nach der Einheit in Pinocchio umsetzte, kann auf ihre Zugänglichkeit in allen Unterrichtsstufen beleuchtet werden. Als markante Epoche soll das faschistische Ventennio mit seinem Zwang zur Einheit sowie die dazu antagonistische Resistenza auf ihre didaktische Relevanz geprüft werden.
Für eine Sensibilisierung für die Zeit nach 1945 kann die Beschäftigung mit dem in der ganzen Welt berühmten (neorealistischen) Film und mit der Welt der Canzoni, die seit 1951 im Festival di San Remo und nach 1968 im Autorenlied große Momente erlebt, beitragen. Große Aufmerksamkeit kommen Fragestellungen zum Themenbereich „L’Italia unita – Le unità d’Italia“ beim Sprach-, Methoden- und Wissenserwerb, beim interkulturellen Lernen und im Kontext des kritischen Umgangs mit neuen Medien, insbesondere dem Web 2.0 zu. Ein Gleichgewicht zwischen didaktischen und methodischen Aspekten wird vorausgesetzt.

V.
Es wird außerdem unser Ziel sein, die Diskussion der aktuellen Probleme der universitären bzw. schulischen Italianistik voranzutreiben. Der Hamburger Italianistentag soll ein Forum für den Erfahrungsaustausch, die Meinungsbildung und die Koordination gemeinsamer Aktionen und Reaktionen sein. Durch die Einladung namhafter italienischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Linguistik, Literaturwissenschaft und Didaktik können diese institutionellen Verständigungen überdies in den größeren Kontext eines über Deutschland hinausreichenden wissenschaftspolitischen Zusammenhangs gestellt werden.

VI.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Thematik „L’Italia unita – le unità d’Italia“ bittet der Vorstand die Mitglieder des Verbandes, Vorschläge für 30minütige Vorträge in den genannten Sektionen einzureichen. Folgende Aspekte mögen dabei als Anregungen für die Ausarbeitung eigener Themen dienen:

A. Sprachwissenschaft

1. Sprachliche Einigung
– Geschichte der sprachlichen Einigung von Dante bis Pasolini
– Konzepte einer italienischen Nationalsprache
– Literatursprache, Nationalsprache, Standardsprache (Dante, Bembo, Manzoni etc.)
– ‘Italianisierung’ in der Emigration: italophone Sprachgemeinschaften und die Nationalsprache

2. Sprachliche Vielfalt
– Überdachung, Koineisierung, Dialektabbau
– Heterogenität im Raum: italienische Dialekte und Regionalsprachen
– gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
– Italianisierung der Dialekte bzw. ‚Dialektisierung‘ des Italienischen (Diglossie, Dilalie, Bilinguismus)

3. Normierung
– Fokussierung, Deskription und Normierung
– Verfahren der sprachlichen Normierung und Vereinheitlichung
– Sprachkritik, Sprachpurismus und Sprachbewusstsein
– alte und neue Sprachmodelle (Rom-Florenz, triangolo industriale, Lombardei; Literatursprache, Mediensprache)

B. Literaturwissenschaft

1. Einheiten vor der Einheit
– Literarisierung vormoderner (transitalienischer) Einheitskonzepte (Konzept der translatio imperii, Guelfen vs. Ghibellinen, Rom-Idee, Mittelmeer–Raum, Christentum vs. Heidentum, res publica litteraria, Akademiebewegung)
– vormoderne Italienkonzepte – „Italia“ als kulturelles Konstrukt (etwa bei Petrarca, in Trissinos L’Italia liberata dai Goti, Leopardi)
– Relationen zwischen lokalen Kulturen und translokalem „Italia“-Konzept (Konkurrenz? Konvergenz ?)

2. Die Einheit der Einheit
– Auf dem Weg zum politischen Italien? Texte zu Volkserhebungen, Revolten, Revolutionen gegen „Fremdherrschaft“ in Italien (eg. Pellico, Gonfalonieri, Manzoni, Nievo)
– Romantik und „Unità“-Gedanken
– politisch-ästhetische Resistenzen gegen „Unità“-Idee im italienischen Neoklassizismus
– „Unità“-Rhetorik in den Texten der Giovine Italia, der Garibaldianer, der Literaturgeschichtsschreibung, critica etc.
– Das politische Geschäft der Italia unita (Politische Institutionen des geeinten Italien im Roman von De Roberto bis Tomasi di Lampedusa)
– Verlierer der Einheit (Elend der Landbevölkerung vs. Reichtum der (norditalienischen) Zentren in italienischen Texten des Verismo etc.)

3. Einheiten nach der Einheit
– das Thema des unvollendeten Risorgimento im primo Novecento
– Regionale Realität vs. Rom-Zentralismus im Nachkriegsroman (Neorealismus, Kriminalroman von Sciascia bis Camilleri)
– Dekonstruktionen der „Einheit“ im Roman des letzten Jahrhundertdrittels (eg. Arbasino, Fratelli d’Italia)
– Regional-dialektaler Eigensinn in der Nachkriegslyrik (eg. Pasolini, Zanzotto)
– literarische Modellierungen öffentlicher Einheitskonstruktionen: il mito della Grande Guerra; der Resistenza-Mythos; anti-berlusconismo (Camilleri etc.)
– l’Italia extracomunitaria: Pluralität und Unifizierung in der gegenwärtigen Migrationsliteratur
– Kulturelle Einheitsdiskurse im Futurismus; im Hermetismus; im nuovo realismo/
neorealismo; in der neoavanguardia

C. Didaktik

1. Zur Geschichte der Nation Italien
– Giuseppe Verdi als Ausdruck des Bewusstseins einer neuen Unità
– das Sizilien nach Garibaldis spedizione dei mille in Pirandellos Novelle L’altro figlio (mit Film der Brüder Taviani)
– Carlo Collodis Pinocchio als „Gründungsmythos“ und pädagogischer „Urtext“ für die junge Nation
– Futurismus und Faschismus: eine „unheilige“ Allianz
– das Ventennio und seine kritischen Schriftsteller, etwa Ignazio Silone (Vino e pane, Fontamara), Carlo Levi (Cristo si è fermato a Eboli)
– der Film Novecento von Bertolucci
– Resistenza: Canti, Volantini, Filme zwischen Drama und Dokumentation (z. Bsp. Paisà)
– Spuren der Geschichte der Unità in der Musik (Canti della resistenza, etwa Bella ciao; Canzoni von Cantautori wie Francesco De Gregori, Antonello Venditti, Davide van De Sfroos)
– Movimenti e partiti politici – Faktoren der Einigung und/oder Spaltung

2. Zum Literatur- und Landeskundeunterricht
– Die Regionen Italiens in ihrer kulturellen Vielfalt
– Carlo Levi, Cristo si è fermato a Eboli, verfilmt von Francesco Rosi, als Beispiel für eine (nicht nur) vom Faschismus vergessene Region
– Gavino Ledda, Padre Padrone, verfilmt von den Brüdern Taviani, als Beispiel für die kulturellen Konflikte zwischen einem vereinheitlichenden Staat und einer Region mit starken Traditionen
– Italia unita? Süden vs. Norden, campagna vs. città …
– Emigrazione, migrazione und immigrazione in Literatur, Film, Musik und modernen Medien: z. B. Pirandello, L’altro figlio, Marco Tullio Giordana, Quando sei nato non puoi più nasconderti, Ivano Fossati, Mio fratello che guardi il mondo, Gianmaria Testa, Da questa parte del mare und Fabrizio de André, Anime salve)

3. Sprachliche, und kommunikative Aspekte
– „Dialekt – Standard“ als Herausforderung für die Schule (Lettera ad una tarantata, Luigi Meneghello, Libera nos a malo)
– Il mondo/„i mondi“ dei giovani nell’Italia di oggi – Lebenswelten und Probleme junger Italiener in Texten der Italia unita und der unità d’Italia
– Regionale Varianten, sprachliche Variationen, Jugendsprache und Sprache im Wandel der Zeit als Gegenstände des modernen Italienischunterrichts
– Blogs, freie Chats, Facebook, Youtube, Twitter: Spiegel vielfältiger Wirklichkeit – Motor der Einigung oder Spaltung?
– Textvielfalt im Unterricht als Spiegel vielfältiger Wirklichkeit im Kontext des individuellen Lernens
– L’Italia unita und le unità d‘Italia in Canzoni, Videoclips und Filmen sowie bildender Kunst
– L’Italia unita und le unità d’Italia – dargestellt in aktuellen Lehrwerken
– Sprachenorientierte Projekttandems zu o.g. Themen

Die Vorschläge sollen in Form von circa 30-zeiligen aussagekräftigen Abstracts
bis zum 15. Mai
, wenn möglich als E-Mail-Attachment, eingereicht werden an:

maria.selig@sprachlit.uni-regensburg.de